Wenn keiner mehr zur Arbeit geht

Ein Reportageauftrag der Frauenillustrierten FÜR DICH  führte mich im Januar 1991 in die schöne Oberlausitz. Der Anlass war traurig. Die Textilindustrie in Ebersbach ging zugrunde. 100 Jahre Tradition starben, 4000 Menschen wurden von der Marktwirtschaft in die Hoffnungslosigkeit getrieben. Windige Geschäftsleute versprachen Investitionen, wollten meist aber nur die Absatzadressen ausspionieren. Maschinen wurden demontiert, Spinde ausgeräumt. Ich fotografierte den letzten Tag in der Weberei, sah die Verzweiflung in den Gesichtern. Von Angelika Stiebner und Manuela Jurschik zum Beispiel.

Ebersbach. Januar 1991

Im November 2002, fast zwölf Jahre also  nach meinem ersten Besuch, machte ich mich wieder auf den Weg .  Dritte und vielleicht letzte Fahrt nach Ebersbach dann im Dezember 2008. Ebersbacher Geschichten.


Tourismus war unsere Hoffnung

November 2002. Ein Plakat an der Durchgangsstraße verkündet frohe Botschaft: „Leben ist schön, ich habe gerade Blut gespendet.“ 4000 von einst 10000 Ebersbachern haben das Weite gesucht. Einziger größerer Arbeitgeber ist heute das Krankenhaus. Kurz vorm Viadukt eine Brachfläche, darauf Reste von Ziegelsplitt. Wenige Wochen vor meinem Besuch war hier das D-Werk, ein Zweigbetrieb der Weberei, abgerissen worden. So dicht an der Bundesstraße 96 sei das doch ein Schandfleck gewesen, höre ich.

Die Weberei des einstigen Kombinats Lautex, in der ich im Januar 1991 fotografiert hatte, ist längst verschwunden. Nur die mächtige Spinnerei steht noch, düster und verlassen. Vorgelagert zur Straße die ehemalige, großzügig gebaute Betriebskantine, jetzt  Lidl-Markt. Ein alter Mann steht neben dem Eingang und studiert die Sonderangebote.

Schräg gegenüber wohnt Eva-Maria Graf mit ihrem Mann in einem schmucken Häuschen. Durch den Garten plätschert die Spree, deren Quelle nicht weit entfernt zu besichtigen ist. Eva-Maria Graf war Abteilungsleiterin in der Weberei. Sie hatte, zusammen mit wenigen anderen, noch bis Ende Juni 1994 einen Job. Lautex hatte damals Produktionsräume und Maschinen an einen Österreicher verpachtet, der hier Jeansstoff für den Export in die USA weben ließ.

Eva-Maria Graf. „Wir waren alle mächtig motiviert, hofften, dass alles so weitergeht mit der Arbeit. Keiner leistete sich bei dem Österreicher Schlamperei.

Wir arbeiteten in der rollenden Woche und hatten voll zu tun. Klar, jeder dachte an die DDR-Zeit mit der Vollbeschäftigung. Schichtbusse rollten da jeden Tag an, brachten Kollegen aus den umliegenden Dörfern und aus polnischen Nachbarorten. Vietnamesen und Mosambikaner standen

an den Maschinen, weil wir das allein alles gar nicht schaffen konnten.

Na ja, 1994 war dann doch Feierabend für uns. Der Österreicher

hatte wohl genug in der Tasche.

Von heute auf morgen kam das mit dem Krebs. Ich war völlig überrascht. Nach der schweren Operation und der langen Rehabilitation sprach mich die Frau von unserem ehemaligen Betriebsarzt an. Die zog gerade einen Fremdenverkehrsein auf und fragte mich, ob ich nicht mitmachen wolle.

Und so bin ich von Anfang an dabei. Wussten sie übrigens, dass Ebersbach 1925 nur sein Stadtrecht bekam wegen der Textilindustrie?“

Der Mann von Eva-Maria Graf kommt aus dem Garten. Er hatte sich gemüht, Treibgut aus dem schmalen Spreelauf zu fischen. Ein Arm hängt leblos herunter. „Mir war ein Autofahrer ins Motorrad gerast, jetzt bin ich Frührentner“, erzählt er.

Seine Frau hat es eilig. Sie muss in die Alte Mangel, ein ehemaliges Fabrikantenhaus, das liebevoll zu einem Treffpunkt für die Ebersbacher restauriert wurde. Der Fremdenverkehrsverein lädt zur Mundartstunde mit dem betagten Herbert Andert. Kein Platz bleibt an diesem Abend frei im

Saal des Fachwerkbaus. Einige Frauen haben sich mit ihren Trachten geschmückt. Kuchen wird angeboten, Kaffee ausgeschänkt und Bier. Eva-Maria Graf wäscht mit flinken Händen Geschirr. Sie wirkt zufrieden
Wir arbeiteten in der rollenden Woche und hatten voll zu tun. Klar, jeder dachte an die DDR-Zeit mit der Vollbeschäftigung. Schichtbusse rollten da jeden Tag an, brachten Kollegen aus den umliegenden Dörfern und aus polnischen Nachbarorten. Vietnamesen und Mosambikaner standen an den Maschinen, weil wir das allein alles gar nicht schaffen konnten. Na ja, 1994 war dann doch Feierabend für uns. Der Österreicher hatte wohl genug in der Tasche. Von heute auf morgen kam das mit dem Krebs. Ich war völlig überrascht. Nach der schweren Operation und der langen Rehabilitation sprach mich die Frau von unserem ehemaligen Betriebsarzt an. Die zog gerade einen Fremdenverkehrsein auf und fragte mich, ob ich nicht mitmachen wolle. Und so bin ich von Anfang an dabei. Wussten sie übrigens, dass Ebersbach 1925 nur sein Stadtrecht bekam wegen der Textilindustrie?“ Der Mann von Eva-Maria Graf kommt aus dem Garten. Er hatte sich gemüht, Treibgut aus dem schmalen Spreelauf zu fischen. Ein Arm hängt leblos herunter. „Mir war ein Autofahrer ins Motorrad gerast, jetzt bin ich Frührentner“, erzählt er. Seine Frau hat es eilig. Sie muss in die Alte Mangel, ein ehemaliges Fabrikantenhaus, das liebevoll zu einem Treffpunkt für die Ebersbacher restauriert wurde. Der Fremdenverkehrsverein lädt zur Mundartstunde mit dem betagten Herbert Andert. Kein Platz bleibt an diesem Abend frei im Saal des Fachwerkbaus. Einige Frauen haben sich mit ihren Trachten geschmückt. Kuchen wird angeboten, Kaffee ausgeschänkt und Bier. Eva-Maria Graf wäscht mit flinken Händen Geschirr. Sie wirkt zufrieden.

Wir haben uns geduckt bis zuletzt

Liesel Meihack hatte 1951 im Jugendwebsaal angefangen, als Spulerin,Küchen- und Kehrfrau, Lagerarbeiterin gearbeitet, dann in der Weberei als Lehrausbilderin. Liesel Meihack lebt mit ihrem Mann Helmut, der an den Rollstuhl gefesselt ist, in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung im Ebersbacher Plattenbauviertel Oberland. Helmut war Zimmermann, immer auf Montage, bis Liesel ihn dann als Transportarbeiter in die Weberei nahm.

Das war mein Spind. Liesel Meihack, Januar 1991

„Ich war ja von Beruf Weberin, arbeitete im Schlitzen-Schlag als Einführerin für die Schiffchen. Als dann die neuen Jeansstoff-Maschinen aus der Schweiz kamen, wurde meine Arbeit nicht mehr gebraucht. In den letzten beiden Jahren machte ich mich noch in der kleinen Kantine am Websaal nützlich. Wenn Delegationen kamen, durften wir die Herren bedienen. Die wurden nur durch solche Gänge geführt, die vorher ordentlich geputzt worden waren. Es gab ja viele Stellen in der Weberei, wo es reinregnete.

Sie würden uns holen, wenn wir wieder gebraucht würden, war uns damals versprochen worden. Das war kein schönes Gefühl aus dem

Fenster zu schauen, wenn andere früh zur Arbeit gingen. Wir Älteren hatten ja immer noch gehofft und uns geduckt und pariert bis zuletzt.“

„Ich habe fünf Töchter. Und von den neun Enkeln sind acht wieder Mädchen. Es gab noch keine Scheidung, alle sind glücklich. Nur mit Urenkeln hat es leider noch nicht geklappt.

6000 Mark Abfindung hatte ich damals bekommen, mein Mann nur  200, weil er ja nicht so lange im Betrieb war. Ein Schwiegersohn arbeitete in der Weberei als Hilfsmeister und ist heute Polizist.

Das war schon eine schöne Zeit früher. Wir konnten im Betrieb verbilligt Bettwäsche kaufen und Jeans, wir feierten unsere Sommer- und auch Weihnachtsfeste gemeinsam. Drei Mal wurde ich als Aktivist ausgezeichnet, erhielt die Bestarbeiternadel und einen FDGB-Ferienplatz in Groß Schönau.

Wir sind nur noch zwei, manchmal drei von damals, die sich ab und an treffen. Der eine weint dann immer. Er kann das alles einfach nicht verkraften. 1991 war ich mit meinem Mann in Rom, dann in Kanada und den USA. Vom Geld her könnten wir noch mehr verreisen, das ist aber wegen des Rollstuhls schlecht.“

Tochter Monika Tillack: „Wir brauchten uns damals in der DDR um nichts zu kümmern. Das ging alles seinen Gang. Auch mit den FDGB-Ferienplätzen. Wer keine schulpflichtigen Kinder hatte, durfte natürlich nicht in der Hauptsaison fahren. Mutti war mal zu einer Auszeichnung ins Interhotel Potsdam eingeladen. Und dann gab es noch eine Fahrt nach Polen dazu. Wir reden aber kaum noch über früher, höchstens bei Familienfeiern.“

Liesel Meihack: „Mein Mann brachte als Monteur einen Zettel vom Kombinat Schwarze Pumpe mit, mit diesem Berechtigungsschein durften wir eine Waschmaschine kaufen. Als Mutter von fünf Kindern kämpfte ich, bis ich eine Viereinhalb-Zimmer-Neubauwohnung zugewiesen bekam.

Zu meiner Abschiedsfeier hatte die Brigade gesammelt und ein elektrisches Fleischmesser gekauft. Und aus Jeansstoff hatten sie eine kleine Mappe mit allen Unterschriften gebastelt. Alle haben gesungen. Da wollte ich mich am liebsten gleich verdrücken. Dem Meister ging das auch sehr nahe.

Viel, die allein sind, haben’s heute schwer. Bei uns im Viertel hier gibt es eine Menge Arme.

Das Licht ausgemacht

Ingolf Hermann war Personalchef für die Weberei und die Spinnerei. Der würde noch genau so aussehen wie damals, sagte mir Eva-Maria Graf bei meinem Besuch im November 2002. Ingolf Hermann biegt mit flottem Schwung auf den leeren Parkplatz vorm Lidl-Supermarkt, der einstigen Betriebskantine. Ich zeige ihm, wo ein herunter getretener Zaun den Zugang zum früheren Betriebsgelände erlaubt. Ingolf Hermann ist neugierig, erklärt aber, keine Zeit zu finden für den Ausflug in leere, düstere Fabrikhallen. Ich erinnere mich an seine Betroffenheit bei meinem ersten Besuch im Januar 1991. Fast alle Webmaschinen waren demontiert, die letzten abgedeckt vorm Abtransport zum Verhökern oder Ausschlachten.

„Ich habe hier damals das Licht ausgemacht, nachdem ich, rein formal, alle entlassen hatte. 2000 Leute. Wir waren ja hier das größte Werk im Lautex-Verband, zu dem 70 Betriebe mit insgesamt 12 000 Beschäftigten zählten. In der DDR durften wir ja keinen rausschmeißen wegen Schluderei. Und nun hatte es also alle getroffen. Wer heute noch Arbeit hat ist bereit für drei zu schuften um ja seinen Job zu behalten. Ein Österreicher übernahm den Websaal mit den modernsten Maschinen. Vorher waren hier nur „Interessenten“ aufgetaucht, die allein Informationen über unsere früheren Absatzmärkte ausspionieren wollten.

Als dann der Österreicher kam, dachten wir sogar an eine GmbH-Gründung, klammerten uns an diese Hoffnung. Aber ob wir das durchgestanden hätten? Der Österreicher jedenfalls ließ hier Jeansstoff für die USA produzieren solange der Absatz klappte. Plötzlich war Schluss. Einige von uns wollten das nicht wahrhaben, klammerten sich an ihre Hoffnung.“

Ingolf Hermann bewarb sich bei der Neuen Lautex in Neugersdorf. „250 Leute arbeiten da heute noch in der Weberei und der Veredlung. 30 Millionen wurden da reingepumpt. Die Geschäftsführer gaben sich die Klinke in die Hand. Zwei Jahre dauert jetzt das Insolvenzverfahren, die EU verlangt Millionen Fördergelder zurück.

Ich bekam dann Arbeit als Gebietsleiter einer Sicherheitsfirma aus dem Osten, hatte den Job von Ende 1992 bis Anfang 1996. Dann wurde die Firma von einem Westberliner Unternehmen aufgekauft und ich stand auf der Straße. Jetzt engagiere ich mich in der Kommunalpolitik, hatte Glück mit dem Termin der Vorruhestandsregelung.“

Ingolf Hermann wirkt bei unserem kurzen Treffen im November 2002 zufrieden.

Ingolf Hermann. November 2002

Ich bin zurzeit richtig tief unten

Angelika Stiebner wohnt  mit ihrer vierzehnjährigen Tochter in einer unsanierten Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung mit 58 Quadratmetern. Der erwachsene Sohn ist aus dem Haus. Angelika Stiebner war Mechanikerin in der Weberei.

„Ich arbeitete in der Schlosserei da hinten, sonst nur Männer. Das war immer lustig. Manchmal haben wir in der Mittagspause Zinnsoldatengegossen oder eine kleine Kanone gebaut. Wir hatten auch Mädels vom Jugendwerkhof in der Spulerei. Das war ein Theater. Die lagen mit den Kubanern immer in den Paletten.

Im Kollektiv gab es kein böses Wort. Manchmal treffen wir uns zufällig.

Bis 1992 hatte ich noch im Betrieb sauber gemacht. Dann war ich erst einmal daheeme, zwei Jahre  arbeitslos, bis ich  eine ABM-Stelle bekam. Wir haben einen Zaun abgebaut und die Unterkunft für den BGS gereinigt. Unser Chef passte auf, dass wir nicht zu schwer arbeiteten. Als ich mit einem Bohrhammer eine Wand einreißen wollte, hat er’s verboten. Nach dem ABM-Jahr hockte ich wieder zuhause. Das Arbeitsamt konnte nichts anbieten, so besorgte ich mir einen Job als Warenauspackerin in einer Kaufhalle. Ich verdiente sieben Mark die Stunde, war aber unter Leuten, das war wichtig. Von ’97 bis ’98 die nächste ABM. Diesmal beim Bildungszentrum. Ich habe Werkzeugkisten gebaut. Wir hatten auch Schule, Computer und so und ein bisschen rechtliche Sachen.

Weil ich nach diesem Jahr nicht wieder zuhause hocken wollte, hatte ich mir einen Job als Bauhelfer besorgt. Fußbodendämmungen, Malerarbeiten – ich habe da viel gelernt. Er hätte mich sogar eingestellt. Doch er meinte, er kriege das bei den Behörden nicht durch, weil ich eine Frau sei. Da hätte ich eine eigene Toilette bekommen müssen. Mit wäre das ja egal gewesen, doch sowas wird wohl kontrolliert. Na ja, dann hatte der Chef ja sowieso kein Geld mehr. Und so ist seit 1999 Ruhe. Bei dem Baujob habe ich mir eine Halswirbelblockierung geholt, kann deswegen in der Kaufhalle nicht mehr Kisten auspacken.

Wenn ich früh die Augen aufmache, weiß ich schon, wie der Tag abläuft. Bin zurzeit richtig tief unten. Alte Länder? Hat doch in meinem Alter keinen Sinn mehr, wenn ich so andere höre.

Wozu bin ich überhaupt noch da? Die paar Kröten reichen doch vorne und hinten nicht. Beim Arbeitsamt sagen sie mir, ich solle den Führerschein machen. Quatsch, ich kann mir doch sowieso nie ein Auto kaufen.

Vor zwei Jahren habe ich mich in Kirschau vorgestellt. Da werden Scheuertücher produziert. Dann ging es plötzlich um Trainingsmaßnahmen beim Arbeitsamt. Sollte ich etwa für viel Geld umziehen, um dann doch keinen Job zu bekommen? Die brauchten doch  nur jemanden für kurzfristige Einsätze. Meine Unterlagen habe ich bis heute nicht zurück.

Ich würde ja nach Berlin gehen und mir dort Arbeit suchen, doch meine Tochter würde das seelisch nicht durchstehen. Sie braucht ihre vertraute Umgebung.

Ich hatte mir immer die falschen Lebenspartner ausgesucht. Eine Psychologin sagte mir mal, ich sei zu nachgiebig in meinen Beziehungen. Ich hatte mit 19 geheiratet. Er hatte sich noch  nicht ausgetobt und fühlte sich um seine Jugend betrogen. Und der Vater von Carolin wollte zur Wende wegmachen, hatte aber keine Lust zu arbeiten. Was soll das?

Ich hatte mit Carolin eine Risikoschwangerschaft, doch der Herr wollte nicht mal Schnee schippen. Und dann fing er auch noch an zu trinken. Ich brauche einen Partner, auf den ich mich verlassen kann. Nicht, dass der Untergang schon programmiert ist. Heiraten? Nie mehr! Man kann ja auch so zusammen leben. Meinen jetzigen Partner habe ich seit fünf Jahren. Wenn das nicht klappt, ist bei mir Schluss. Ich mache mir viel zu sehr einen Kopp um andere. Das strapaziert meine Nerven.

Ich hab‘ beim Fasching mal eine Spanien-Reise gewonnen, konnte das erst gar nicht glauben. Als wir mit dem Bus angekommen waren, hätte ich die Erde küssen können. Der Fahrer sagte ‚Mädel, wir sind wirklich da!‘ Ich stand neben dem Bus und dachte, das ist alles nur ein Traum. Das war vor fünf Jahren.“

Angelika Stiebner. November 2002

Mir fehlt einfach noch die Kraft

Manuela Jurschik sitzt allein im kleinen Wohnzimmer ihres Altbaus. Sie hatte kurz gezögert, mich herein zu bitten.  Die Wände in der Küche sind verschimmelt, die Tapete fault ab.  Die Wohnungsgesellschaft habe ihr deswegen ja schon die bei Auszug vorgeschriebene Renovierung aus dem Vertrag gestrichen.

Nach einer Krebsoperation hat Manuela noch nicht die Kraft, sich zu wehren. Als ich sie, meine letzte Gesprächspartnerin in Ebersbach im November 2002, besuche, sitzt sie über einem Synonymwörterbuch und sagt, es sei doch interessant zu lernen wie man etwas auch anders ausdrücken kann.

„Zum Schluss war ja immer nur noch einer in der Schicht. Dann kam die Krankheit. Ich war alleinstehend, wollte immer Stärke zeigen, es allen beweisen. Das Neue machte mir Angst. Das war bei mir eine psychische Geschichte. Die Klinik hatte mir dann sehr geholfen. Ich hätte ja bis zum Umfallen weiter gemacht.

Bis 1995 war ich arbeitslos, dann bekam ich eine ABM, konnte bei Holz- und Malerarbeiten vieles ausprobieren und lernen. Nach diesem Jahr hatte ich mich bei einem Ergotherapeuten zur Ausbildung beworben, wollte in einem Altenheim helfen. Irgendwie klappte das aus Versicherungsgründen nicht. So ging ich nach Dresden für eine Umschulung zur Ergotherapeutin. Die drei Jahre waren fast rum als ich zur  Brustamputation ins Krankenhaus musste. Das war bei Zwischenprüfungen in Dresden. Ich merkte, dass etwas nicht stimmt mit der Brust. Da war es schon zu spät. Ich dachte, du kannst doch jetzt nicht krank werden, so kurz vor dem Abschluss.

Ich hätte mich da für einen Tag arbeitslos melden müssen, hörte ich hinterher. Doch wie sollte ich das denn?

Jetzt bin ich erst  einmal bis zum August 2004 Frührentner.

Schon als Kind wohnte ich gleich neben dem Lautex-Betrieb, hatte dort  als Schülerin in Sonderschichten gearbeitet. Komisch, dass von der Weberei nichts mehr da ist. Auch die Weberei an der B 96 ist ja jetzt weg. Da hatte ich auch gearbeitet.

Jetzt lerne ich, etwas aufzutanken. Das ist ganz neu für mich. Gut, dass ich mit der Rente ein bisschen Sicherheit habe.

Ich soll der Schule in Dresden Bescheid sagen, wenn ich wieder o.k. bin. Mir fehlt ja nur noch die Prüfung. Ich will das noch vor 2004 schaffen. Im Augenblick aber bin ich noch zu sehr mit meinem Zustand beschäftigt. Ich fühle mich noch nicht fit genug. Der Wille ist da, doch die Kraft fehlt. Ich könnte ja auch halbtags in einer Praxis einsteigen, das Geld würde mir reichen. Meine Tochter verdient ja jetzt zum Glück selbst.

Aber vielleicht würde das doch nicht langen bei den niedrigen Löhnen hier.“

Manuela starb elend

Manuela hat den Kampf gegen den Krebs verloren, starb elend, gepeinigt von schrecklichen Schmerzen. Das erfahre ich im Dezember 2008 bei meinem dritten und wohl letzten Besuch in Ebersbach von ihrer einst besten Freundin, die sie bis zum Ende gepflegt hatte. „Manuela hatte sich so sehr gewünscht, noch einmal die Ostsee erleben zu dürfen, zusammen mit ihrer Tochter. Wir hatten ihr dann diesen Wunsch erfüllt.“ Nach unserem kurzen Gespräch ein Blick in das Gartenhäuschen, wo viele kleine Dinge bewahrt sind, die  Manuela Jurschik besessen hatte. Ich sehe auch das letzte Foto. „Wir waren ein Herz und eine Seele.“

Nach der ersten Krebsoperation. Manuela Jurschik. November 2002

Auch Liesel Meihack kann bei meinem Besuch im Dezember 2008 von Manuela berichten, dass sie einen Garten in Cottmarsdorf hatte und dort gern mal übernachtete in ihrer Laube, dass sie es liebte, mit dem Moped herumzusausen.

Dezember 2008, Wiedersehen mit Liesel Meihack. Sie ist vor drei Jahren mit ihrem Mann Helmut aus der großen Plattenbauwohung in Oberland in ein Haus für betreutes Wohnen gezogen. „Mein Mann kann sich ja fast nur noch im Rollstuhl bewegen und hier haben wir einen Aufzug. Ja, die Wohnung ist viel kleiner, ist aber schon gut für uns. Morgens und abends kommt eine Schwester, das Essen lassen wir uns bringen, die Kinder besuchen uns oft. Wir sind schon sehr zufrieden hier. Und am 20. Dezember feiern wir Goldene Hochzeit. Liesel Meihack freut sich über die Fotos, die ich ihr mitgebracht habe, von damals, Januar 1991 und meinem zweiten Besuch im November 2002. „Ach, da habe ich ja den gleichen Pullover an wie heute.“ Alles Gute Liesel und Helmut!

Letzter Besuch. Liesel Meihack, Mann Helmut. Dezember 2008

Eva-Maria Graf treffe ich in der Ebersbacher Tourismus-Information. Sie hat viel zu tun in dieser Vorweihnachtszeit und wirkt mir gegenüber reserviert. Mein Text vom Besuch 1992 sei zu negativ gewesen. Ich hätte gar nicht geschrieben, was alles erreicht wurde hier nach der Wende. Meinen Einwand, nur einige ganz subjektive Eindrücke notiert zu haben, will sie nicht gelten lassen. „Wir Ebersbacher sind da empfindlich.“

Und Angelika Stiebner? Ich habe alle Klingelschilder im langen Plattenbaublock abgeklappert – vergeblich. Sollte sie geheiratet haben? Ich erfahre den Namen des damaligen Lebenspartners, werde aber von Eva-Maria Graf von einer zweiten Suche abgehalten. „Die sind schon seit drei Jahren auseinander, er hat jetzt eine eigene Familie. Das wäre aber nicht gut, wenn Sie jetzt da klingeln würden.“ Also packe ich die Fotos für Angelika Stiebner, die vom Januar 1991 an ihrem letzten Arbeitstag in der Weberei und von meinem Besuch vom November 2002, wieder ein, streife noch einmal um das alte Backsteingemäuer der Spinnerei und verabschiede mich aus den Ebersbacher Geschichten.

Abschied. Ebersbach. Dezember 2008

Die vollständige Serie findet man hier: https://www.fotogemeinschaft.de/v/fotografen/Ulrich-Joho/ebersbacher-geschichten/