„Die demographische Entwicklung in Deutschland ist ja nun wahrlich keine Neuentdeckung. Sich damit fotografisch auseinanderzusetzen, erscheint – Bild für Bild betrachtet – zunächst auch wenig spektakulär. Martin von Lindern (*1963) hat diese Serie insofern ‚Deutschland altert‚ genannt, als dass damit nicht nur die Deutschen, sondern Deutschland in der Gesamtheit gemeint ist. Dabei fällt auf, dass sich gerade an historischen, oder touristisch weniger jugendlich geprägten Orten besonders viele ältere Menschen aufhalten. So erzählt jedes einzelne Bild eine eigene, oft sehr lange Geschichte. In der Gesamtheit zeigen die Arbeiten ein kleines, aber sehr subtiles Spiegelbild der Gesellschaft in Deutschland. Viele der Arbeiten zeigen aus meiner Sicht auch eine Vorschau auf die sehr viel später entstandene Serie ‚Skizzen aus Deutschland‘ Es lohnt einen Blick …“ (Richard Birnkraut im Sommer 2012)

Der Wunsch

Nur allzu häufig bekommen wir die ältere Generation als eine Ansammlung fitter, braungebrannter rüstiger Rentner präsentiert, die am Strand joggen (natürlich verlogenerweise meist als Paar oder aufgehoben in der Familie inmitten junger Menschen, die ihnen wohlgesonnen sind.) Etwa so:

Beste Versorgung durch eine üppige Rente gesichert. Mobil durch Auto und mit viel Wohnraum durch Eigenheim. Man sollte darauf hinweisen, dass es diese Rentner in Deutschland tatsächlich gibt. Sie machen jedoch nur einen kleineren Teil der Rentner aus.

Die Wirklichkeit

Die Kehrseite der Medaille ist der gebrechliche, allein lebende Rentner (Partner gestorben), der von einer ärmlichen Rente sein Dasein fristet, sich kaum noch bewegen kann und nicht selten auf ein – (übrigens für Kinder und Rentner gleichermaßen ungeeignetes) – vom Auto dominiertes städtisches Chaos trifft: die schnellebige technische Zeit ist über ihn hinweggegangen.

Er nutzt noch das Telefon mit Wählscheibe und den alten Fernseher aus dem vorigen Jahrhundert. Sein Rollator, sein Stock oder ein(e) gleichaltrige(r) Freund bzw. Partner(in) sind ‚draußen‘ seine einzige Stütze.

Martin von Lindern: Deutschland altert

Martin von Lindern: Deutschland altert

Die Kinder und Enkel kommen ihn fast nie besuchen. Mit Handys kann er nicht umgehen und das Internet ist ihm fremd. Rücksichtnahme und Verständnis der Jüngeren kann er selten voraussetzen. Umgekehrt hat er natürlich auch kein Verständnis für jüngere Menschen. Eher hat er Angst vor den Jugendlichen, die an ihm mit Skateboard vorbeirasen und sein fragiles Rollator-Gleichgewicht stören.

Martin von Lindern hat sich in seiner Fotoserie ‚Deutschland altert‘ genau diese wesentlich größere Zielgruppe vorgenommen, die der Realität in Deutschlands Städten weit eher entspricht.

Seine Fotos handeln von einer Generation, die mit Ihren Leiden fotografisch (und überhaupt medial) sehr oft ins Abseits rutscht: Die Generation der Gebrechlichen und Pflegebedürftigen. Während die Pflegebedürftigen bereits ins Heim aufs Abstellgleis geschoben wurden, wo sie dann auch mehr oder weniger versteckt vor der Öffentlichkeit sind (s. die Fotoserie ‚Endstation‘ von Ulrich Joho) gibt es in Deutschland nicht zuletzt aufgrund des medizinischen Fortschritts zahlreiche alte Menschen, die noch in Ihrem eigenen Zuhause leben, aber eben den Leiden des Alters und einer häufig im wahrsten Sinne des Wortes stärkeren Ge- und Zerbrechlichkeit (Stichwort: Osteoporose) ausgeliefert sind. Jeder Sturz bedeutet Krankenhaus! Es ist die Generation 70+.

Die sensible Fotoserie von Martin von Lindern trifft das Lebensgefühl der älteren Menschen in Deutschland auf besondere Weise: Sie macht dies durch den kombinierten Einsatz verschiedener Stilmittel, die in ihrer Gesamtheit die deprimierende Bilanz einer vom gesellschaftlichen Leben weitgehend ‚ausgegrenzten‘ großen Menschengruppe vor Augen führt.

A. Blicke / Haltungen / Bewegungen

Martin von Lindern: Deutschland altert

Martin von Lindern: Deutschland altert

  • mühsame langsame Bewegungen
  • Ausruhend / Sitzend
  • Blicke eher verschlossen, verbittert
  • sich aneinander klammernd/gegenseitig stützend
  • sitzend
  • sich anlehnend
  • sich abstützend
  • sich schleppend
  • sich abmühen (schweres Bücken) – die kleinste Anstrengung wird zur Last
  • sich beistehen (Paare)
  • geschwollene Füße
  • nachdenklich/betrüb
  • gesenkte Köpfe (kein Lebensgenuss)
  • Frauenpaare (beide Männer gestorben)
  • ausblickend in die Ferne (Jenseits-Blick)
  • die Alten unter sich (Gruppen alter Leute ohne junge)
  • keine jungen Leute ZUSAMMEN mit den Alten
  • ‚abgeschoben‘ und unter sich
  • Nichtstun
  • Langeweile
  • altmodische Kleidung
  • ausgegrenzt aus dem gesellschaftlichen Leben

B. Hilfsmittel

Martin von Lindern: Deutschland altert

Martin von Lindern: Deutschland altert

  • Rollatoren Rollstühle und Gehstöcke
  • mit Behindertenbinde (abhängig von anderen)

C. Gestalterische Merkmale der Fotos

Martin von Lindern: Deutschland altert

Martin von Lindern: Deutschland altert

  • Farbtonung (old style)
  • Perspektiven (Straße) und Licht (verstärkt die Langsamkeit der Bewegung)
  • Perspektive verstärkt den Eindruck von der Länge des Weges
  • Schatten seiner selbst (Einsatz von Schattensymbolik)
  • kippende Perspektive (Angst vor dem Fallen)
  • anonym (von hinten)
  • Anschnitte

Noch schlimmer als eine kleine Rente ist die Tatsache des ‚Ausgegrenztseins‘, der Einsamkeit, des ‚Unter-Sich-Seins‘.

Martin von Lindern: Deutschland altert

Martin von Lindern: Deutschland altert

Es gibt keine dialogisch geprägte Verbindung mehr zwischen Jung und Alt. Damit geht für die Jungen der ganze Erfahrungsschatz der Alten verloren; die Alten verlieren ihren Bezug zur Gegenwart und ihre Freude am Leben. Verbitterung greift um sich.

Martin von Lindern: Deutschland altert

Martin von Lindern: Deutschland altert