… das wäre ein schöner Titel für eine semi-philosophische Abhandlung über Fotografie. Semi-philosophisch deshalb, weil im ernsthaften Wissenschaftsbetrieb, im Geisteswissenschaftsbetrieb Subjektivität verpönt ist, insonderheit bei den Deutschen. Niemand hat das besser als Nietzsche formuliert: Der deutsche Gelehrte liest und liest und liest, und wenn er nicht liest, denkt er nicht. Er ist durchs viele Lesen so trocken geworden, dass er verpufft, wenn man nur ein kleines Streichholz in seiner unmittelbaren Umgebung entzündet. Nietzsche zieht daraus für sich das Fazit: „In der Morgenröte meiner Kraft ein Buch zu lesen, das nenne ich lasterhaft.“

Die Frage, was Bildung sei, beschäftigt mich angesichts der Geistlosigkeit von Politik und Wirtschaftsmacht, aber auch angesichts der Menschen, die einen umgeben, immer wieder aufs neue. Ich will, was ich meine, an einem Beispiel verdeutlichen, an einem Beispiel, bei dem es noch nicht um Bildung, aber ums Lernen geht. Der Erwerb eines Führerscheins setzt voraus, dass man die Verkehrsregeln und die Bedeutung der -schilder lernt, man muß gewisse Abläufe beim Fahren, auf die Kupplung Treten, Schalten, Gas Geben, nach hinten Gucken körperlich internalisieren, und zwar durch Üben derart gut, dass man ohne nachzudenken das einer jeden Situation Angemessene tut. Mit anderen Worten: Die „Theorie“ muß sich ins Handeln verwandeln; man muß, was man lernt, auch umsetzen können. In Bezug auf die Komplexheit des Lebens scheint das aber so gar nicht zu funktionieren. Wir sind zwar bereit, Verkehrsregeln zu lernen, aber keine Lebensregeln. Im Kunstbetrieb gibt es Menschen, die intelligent und einschüchternd über Kunst reden können, wobei immer auch eine ethisch-moralische Dimension mitschwingt, aber menschlich gesehen verhalten sich diese Menschen wie Unmenschen, sie sind, mit einem Wort: unerträglich.

Ich steuere, wie man leicht merkt, auf das Verhältnis von Rede und Handeln zu. Am miserabelsten stellt sich dieses Verhältnis in der Politik dar. Mit zunehmendem Alter beziehungsweise mit zunehmender Erfahrung hört man sich das Geschwätz der Politiker vor den Wahlen erst gar nicht mehr an. Wenn man aber an der Realisierung richtigen Lebens, wenn man an Wahrheit und Wahrhaftigkeit interessiert ist, wenn man sich bemühen möchte, vom Richtigen nicht nur zu reden, sondern es auch zu tun, fragt man sich, wie „funktioniert“ Erkenntnis unterm Vorzeichen von Ehrlichkeit und Authentizität. Sie „funktioniert“ bruchstückhaft, und darin unterscheidet sie sich von dem, was vor allem Lehrer als Wissen verlangen. Dem Lehrer genügt es nicht, eine Zeile aus einem Gedicht zitieren zu können, sondern man muss den Namen des Gedichts wissen, möglichst noch das ganze Gedicht auswendig hersagen können, man muß es einer Epoche zuordnen können, einer Jahreszahl, einem Genre – und vor allem natürlich einem Autor.

Dem, der mit Literatur lebt, der aus ihr lernt, wie er sich am besten verhält, den interessieren in erster Linie nicht die reproduzierbaren Fakten, sondern eben der Erkenntnis- oder „Wahrheitsgehalt“ (Walter Benjamin). In meiner Jugendzeit, in den sechziger Jahren, habe ich es erlebt, dass Freunde von mir am Wochenende durch die Kneipen zogen, das heißt, weil in der einen nichts los war, ließ man sich in die nächste treiben usw. Man war auf der Suche nach Erfüllung, etwas, das dem eigenen Leben Inhalt gab.

Mir selbst war die Erfahrung von Alltagsöde zu eigen, die in der Regel in den Kneipen, die man Anfang der sechziger Jahre aufsuchen konnte, nur noch verstärkt wurde, vor allem, wenn aus der Musikbox der Kriminaltango dröhnte, die Schwülstigkeit hoch drei.

Hilfreich waren für mich damals einige Verszeilen von Gottfried Benn:

Flüchtiger, du mußt die Augen schließen,

denn was eindringt, ist kein großes Los;

auch im Lokal ist kein Genießen,

selbst an diesem Ort zerfällst du bl0ß.

Nicht die literaturhistorische Einordnung macht Bildung aus, sondern das Integrieren in das eigene Leben, die eigene Person. Im Falle der Bennschen Verse heißt das, man läßt ab von der unsteten Suche nach Glück. Man durchläuft einen Prozess der Desillusionierung, der einen peu a peu selbständiger macht, vorausgesetzt, dass man solche Selbständigkeit anstrebt.

Entscheidend ist, dass sich die „Lern“inhalte, dass Einzelerfahrungen sich im Subjekt synthetisieren. Hegel nannte solche Synthese „durchgängige Geläufigkeit“. Man macht die Erfahrung von Langeweile und Leere, weiß mit sich selbst nichts anzufangen, sucht nach äußeren Reizen, nach Erlebnissen – und eilt ins nächste Lokal. Wenn man aber begriffen hat, daß die äußeren Reize zum Zwecke der Ablenkung sich mit der Zeit abnutzen und schal werden, kommt man im glücklichen Falle zu der Erkenntnis, dass man selber produktiv und kreativ werden muß, um der Öde des Daseins zu entgehen.

Dies ist jetzt nur ein kurzer Abriss über fragmentarische Erkenntnis, die aber zu einem Ganzen werden kann durch Integration in den Entwicklungs- und Reifeprozess eines Menschen. Walter Benjamin war es, der die Bedeutung des Fragments, die Bedeutung historischer Bruchstücke für das einzelmenschliche Bewußtsein, für das einzelmenschliche Seelenleben zum Programm erhoben hat. Und in der Tradition von Walter Benjamin ist das berühmte Buch von Roland Barthes über Fotografie zu sehen. Sein Titel: Die helle Kammer.

Barthes unterscheidet in seinem Buch zwischen den Begriffen studium und punctum. Das Studium entspräche dem, was ich als objektive historische Einordnung einiger Gedichtzeilen bezeichnet habe. Das punctum entspricht einer persönlichen Betroffenheit, entspricht einem Etwas, das im Augenblick der Begegnung des Subjekts mit einer Fotografie oder einem Gedicht tief berührt. Salopp gesprochen, das so richtig reinhaut. Ich habe so um 1990 in einem Foto-Seminar von mir mit Studenten der Kunsthochschule Kassel das Buch von Barthes gelesen. Barthes illustriert den Wert, den Fotografien in seinem Leben hatten beziehungsweise haben, mit eben diesen Fotografien. Und manchmal ist es noch nicht einmal die ganze Fotografie, die ihn beeindruckt hat, sondern die Geste einer Hand, ein Blick, ein Lächeln. Anders als Sloterdijk redet Barthes nicht allgemein über Sachverhalte, sondern er tut dies anhand einzelner Beispiele. Er redet über Bilder, indem der Leser mit ihm diese Bilder auch anschaut. Das Buch ist ein Schlüsselwerk darüber, was Erkenntnis im existentiellen Sinne bedeutet: Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Suhrkamp Taschenbuch, 2008.

Nachtragen möchte ich noch, warum ich die gemeinsame Lektüre mit den Studenten erwähnt habe. Einer von ihnen sagte, ja, aber die Fotos, die Barthes als Beispiele anführe, sprächen ihn nicht an. Nun, man sehe das einem Kunststudenten nach, der oft genug den Schritt von der differentia specifica zum genus proximum nicht schafft. Was er in diesem Moment nicht begriffen hatte, war beziehungsweise ist der Umstand, dass natürlich das punctum bei jedem Menschen von etwas anderem ausgelöst wird, dass aber jeder Mensch als solches kennen und erfahren müsste. (Mehr darüber kann man in der Suche auf der verlorenen Zeit von Marcel Proust im Zusammenhang des Phänomens der unwillkürlichen Erinnerung erfahren – und in Samuel Becketts Essay über Proust.)

Mich beipielsweise haben eine Reihe von Fotos in der Ausstellung von Edward Steichen The Family of Man sehr stark angesprochen. So das Foto eines Mädchens, das in einer Art Shelter (überdachte Bushaltestelle?) sitzt, auf einer Holzbank vor dem Hintergrund einer alten, abgenutzten Wand. Sie hat ihre Beine mit den nackten Füßen an den Körper herangezogen, die Beine, bedeckt von einem Rock, hat sie mit ihren Armen umschlungen und den Kopf auf ihre Knie gelegt. Dem Bild war ein Zitat zugeordnet, vielleicht ein Haiku im Original: „I am alone with the beating of my heart.“

Das Bild war Ausdruck meiner jugendlichen Sehnsucht, eben nicht mehr nur in mir selbst und nicht mehr einsam sein wollen.