Erfahrungen im indischen Mumbai – Teil 1

von Torsten Andreas Hoffmann

 

 
 

Es ist unter Reisenden schon seit langem bekannt, dass Indien die Gemüter spaltet, die einen lieben es, die anderen hassen es. Gleichgültig oder unberührt wird niemand, der diesen Subkontinent betritt, ihn wieder verlassen. Mumbai, das ehemalige Bombay, galt früher neben Calcutta als einer der abschreckendsten Orte in Indien, denn es stand und steht heute noch für Slums, Armut und Elend. Schon im Landeanflug auf Mumbai scheinen die Tragflügelspitzen kurz vor dem Aufsetzen die vielen Wellblechdächer der kleinen Slumhütten fast zu berühren. Verlässt man dann das Flugzeug, findet man sich aber in einem ultramodernen Terminal wieder. Und genau dieser extreme Gegensatz charakterisiert Mumbai, denn es ist inzwischen DIE indische Finanzmetropole geworden und so wird das Stadtbild immer mehr von modernsten Hochhäusern dominiert, die kaum anders aussehen als in den USA, Europa oder China. Mumbai hat inzwischen mehr Hochhäuser als Singapur. Und Mumbai hat heute schon ca. 23 Millionen Einwohner und wird nach Vorausberechnungen im Jahr 2050 über 40 Millionen haben und damit die bevölkerungsreichste Stadt der Erde sein. Für viele Inder ist Mumbai die Stadt ihrer Träume und nicht die viel kleinere Hauptstadt Delhi.

In Mumbai wird soviel gebaut wie in kaum einer anderen Stadt. Doch zwischen diesen neuen Auswüchsen der Moderne findet sich das traditionelle indische Leben, so wie es vor 20 oder 30 Jahren schon war und dieses typische indische Leben lässt sich nur mit Müh und Not aus der Metropole, die sich so gerne ein ultramodernes Gesicht geben möchte, vertreiben.

Fährt man nach der Landung vom Flughafen mit dem Taxi nach Colaba, dem Stadtteil Bombays, den die Engländer gebaut haben und in dem sich das berühmte Taj Mahal Hotel neben dem Gate of India befindet, so beginnt der Weg über 6 bis 8 spurige Autobahnen, die aber nach einer Weile in einer recht engen, vollkommen verstopften vierspurigen Straße, enden. Alle Art von Gefährten tummeln sich hier, auch Rikshaws, die man aus dem Zentrum von Mumbai schon verbannt hat, dürfen hier noch fahren, ringsherum das pralle Leben, ständiges Gehupe, und plötzlich riecht es nach Kloake, neben der Straße fließt ein kleiner Fluß, darüber befinden sich mehrstöckige Wellblechbauten, die teilweise mit Kunststoffplanen verkleidet sind. Diese provisorisch wirkenden Slumhäuser haben im untersten Stock zum Teil kleine Toilettenhäuschen angebaut, unter denen sich ein winziges, nach unten offenes Rohr befindet, durch das die Exkremente direkt in den Fluss geleitet werden. Das Taxi durchquehrt plötzlich das größte Slum von Mumbai, Dharavi, in dem ca. eine Million Menschen wohnen.

Wer auf dieser Strecke zum ersten Mal durch die Straßen von Mumbai gefahren wird, hat häufig den Impuls, sich gleich ins nächste Flugzeug zu setzen, um auf der Stelle wieder kehrtzumachen. Der erste Blick ist wirklich abschreckend und entsetzlich hässlich, aber man sollte es auch auf den zweiten Blick ankommen lassen und über diesen zweiten Blick und die Erfahrungen, die man als Fotograf in Mumbai machen kann, möchte ich an dieser Stelle berichten.

Hat man Dharavi hinter sich gelassen, so fährt man bald auf einer Hochstraße, die einem einen ziemlich guten Überblick über die wechselhafte Architektur dieses Riesenmolochs verschafft. Da wechseln sich 10 bis 20 stöckige verschimmelte Hochhäuser, die vielleicht 20 – 30 Jahre alt sind, mit modernen, eleganten bis zu 70 Stockwerke hohen Wolkenkratzern ab, die zum Teil noch in Bau sind, wie der World One Tower in Lower Parel, der in wenigen Jahren mit 442 m Höhe und 117 Stockwerken eines der höchsten Gebäude der Welt sein wird.

Die älteren Gebäude zeichnen sich häufig durch vergitterte Fenster aus, die verhangen sind von bunter Kleidung und allen möglichen anderen Kleinigkeiten, die Farbtupfer in die Stadtlandschaft bringen. Dennoch wirken sie wie große, teilweise düstere Gefängnisgebäude. Die neuen riesigen Hochhäuser hingegen sind im modernsten Stil gebaut und bestehen meistens aus Luxusappartements, die wesentlich teurer sind als z.B. in Frankfurt am Main und somit nur für die kleine Schicht der superreichen Inder gedacht ist, die es schick findet, in Mumbai solch ein Appartement zu besitzen.

Aber gerade das macht den Charakter von Mumbai aus, es ist die Riesenmetropole  mit den extremsten Gegensätzen, die man sich vorstellen kann.

Zwischen diesen vielen verschiedenen Gebäudetypen, die man von der Hochstraße erkennen kann, quirlt das Leben: bunteste Menschenmassen und Gefährte in verstopften Straßen, Moscheen und Hindutempel, die Stadt erschlägt einen geradezu mit den vielen Sinnesreizen, die sie bietet.

Nach langer Fahrt wechselt die Architektur recht plötzlich und auf einmal scheint man sich fast in Europa zu befinden, denn es umgeben einen schöne, der wilhelminischen Architektur ähnliche Gebäude im britischen Kolonialstil. Nun ist das Zentrum des ehemaligen Bombay erreicht. Nicht weit vom berühmten Taj Mahal Hotel gibt es etliche passable und bezahlbare Hotels, in denen die Pracht des Kolonialstils allerdings schon ein wenig abgebröckelt ist.

 

Hier gibt es kleine, zumindest für indische Verhältnisse ruhige Straßen mit schönen Bäumen, Colaba ist immer noch eine der wenigen Oasen in dieser Riesenstadt.

Doch sobald man als westlicher Mensch die sichere Umgebung eines Taxis oder Hotels verlassen hat, wird man häufig von Menschen, seien es nun Bettler oder Händler aller Art angesprochen und man muss rasch lernen, sich abzugrenzen: eine entsprechende Handbewegung, den Blick nach unten richten „no thank you“ sagen und einfach weitergehen gehört hier zum Überleben.

Wie nähert man sich nun als Fotograf solch einem Ort?

Gewiss ist es gut, gleich zu Beginn der Zeit an solch einem vollkommen neuen Ort, all das zu fotografieren, was einen anspringt. Der fast schon vagabundierende großartige Magnum Fotograf Josef Koudelka hat so schön gesagt, dass es Motive gibt, die an bestimmten Orten geradezu auf einen warten würden. Er blieb nie länger als 3 Monate an einem Ort, denn danach habe er sich so an einen Ort gewöhnt, dass er nichts Wesentliches mehr entdecken könne.

Indien ist auf den ersten Blick so extrem anders als Europa, sei es nun die Architektur, der nach unseren Maßstäben vollkommen chaotische Verkehr, die quirligen Menschenmassen, die unzählig vielen winzig kleinen auf- und zuklappbaren Lädchen an der Straße, die vollkommen chaotisch verlegten Stromkabel, die Kleidung der Menschen, aber auch der viele Dreck und in Mumbai die auffällig vielen Slums. All dieses völlig Andersartige fällt einem in der ersten Zeit der Annäherung an solch einen Ort besonders stark ins Auge und deshalb sollte man es auch gleich fotografieren.

Natürlich ist es auch sinnvoll, sich etwas Wissen über einen Ort anzueignen, aber nicht nur im touristischen Sinn über die Sehenswürdigkeiten, sondern über das, was den Ort wirklich charakterisiert. Und das hat in Mumbai viel mit dem entfesselten globalen Kapitalismus zu tun, den man auch mit der Kamera einmal kritisch hinterfragen sollte.

Hauptnachteil dieser weltweit vorherrschenden Wirtschaftsordnung ist, dass von den wirtschaftlichen Aufschwüngen gerade in Schwellenländern wie Indien meist nur eine kleine Minderheit profitiert. Der erwirtschaftete Gewinn müsste also gerechter verteilt werden, so dass er auch den armen Menschen zugute kommt. Und arme Menschen gibt es in Indien so viel wie in keinem anderen Land auf dieser Welt. Und dies obwohl Indien zu den Schwellenländern mit einem ziemlich hohen Wirtschaftswachstum (ca 7%) zählt. Mumbai ist die Finanzmetropole in Indien, die die höchsten Wachstumsraten verzeichnet. Doch dieses Wachstum dient hauptsächlich einer kleinen Schicht von Superreichen, und noch der gewachsenen oberen Mittelschicht.

Beispiel dafür ist der unglaubliche Immobilienboom, der in der letzten Zeit ähnlich wie in der westlichen Welt hauptsächlich den Begüterten zugute kommt. Geschätzt die Hälfte der Einwohner Mumbais sind arm, müssen mit wenigen Dollar am Tag auskommen. Sie wohnen in einem der vielen Slums auf engstem Raum. Will man Mumbai also fotografisch darstellen, führt an den Slums kein Weg vorbei, und hier wird die Sache schwierig, denn es ähnelt schon fast einem „Zoobesuch“, wenn man als westlicher Wohlstandsbürger sich mit dicker Kameraausrüstung den Slums von Mumbai nähert.

Dies sollte man m.E. nur dann tun, wenn man wirklich ernsthafte Absichten hat und dazu beitragen möchte, die zunehmende Ungleichheit auf dieser Welt zu veranschaulichen, weil man sie für ein wichtiges Thema hält. Diese extreme Ungleichheit, die auch in den USA, dem Land des „amerikanischen Traums“ deutlich zunimmt, ist wahrscheinlich nirgendwo auf der Welt so zugespitzt wie in Mumbai.

Und diese zunehmende Ungleichheit ist ein weltweites Phänomen, dem die Politik machtlos gegenüberzustehen scheint. Selbst im superreichen Deutschland ( im Vergleich zu Indien ), entwickelt sich die Verteilung des Vermögens zunehmend weniger gerecht, Managergehälter steigen ins Horrende, während das Einkommen von Leistungsträgern wie Krankenpfleger oder Sozialarbeiter fast stagniert.

Auch in Europa steigt die Armut. Sogar im reichen Deutschland lebt inzwischen jedes 5. Kind unterhalb der Armutsgrenze, mit anderen Worten: die große Mittelschicht beginnt zu bröckeln, die Superreichen werden noch reicher und die Armut nimmt zu. Wir haben es also mit einer Entwicklung zu tun, die in Mumbai ein zugespitzter Endpunkt sein könnte, auf den die restliche Welt zusteuert, wenn die Herrschaft der Marktgesetze nicht durch mehr Kontrolle eingedämmt wird.

Deshalb habe ich mir Mumbai herausgegriffen, weil es m.E. den Charakter einer weltweiten Entwicklung schon jetzt antizipatorisch veranschaulichen kann.

Und deshalb habe ich mir auch erlaubt, die Armut in den Slums von Mumbai, so gut ich konnte, fotografisch darzustellen. Über die Erfahrungen, die ich dabei gemacht habe, berichte ich im zweiten Teil.

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