Erfahrungen im indischen Mumbai – Teil 2

von Torsten Andreas Hoffmann

 

 
 

Will man die Slums von Mumbai fotografieren, ist es ganz wichtig jemanden mitzunehmen, der die Landessprache spricht, in diesem Fall die übergeordnete Landessprache von Indien: Hindi. Meine Dolmetscherin hat mir den Zugang zu vielen Menschen, gerade in den Slums geöffnet, und sie hat dafür gesorgt, dass ich von den Menschen nicht als Voyeur betrachtet wurde.

In Mumbai gibt es inzwischen auch offizielle Slumführungen. Gewiss ist es für jeden Indienbesucher wichtig und auch legitim, einmal „das wirkliche Leben“ eines Großteils der Inder wenigstens ansatzweise kennenzulernen. Bei diesen Führungen ist es Bedingung, dass nicht fotografiert wird. Ich habe aber auch ein paar Kollegen getroffen, die allein mit der Kamera in den Slums unterwegs waren.

Meine Erfahrung war ausgesprochen positiv. Ich habe aber auch sehr entschleunigt gearbeitet. Meist habe ich meine Canon 5DSR mit ihrem 50 Megapixel Sensor, die sich besonders für sehr große Prints hervorragend bewährt hat, auf ein Stativ gesetzt und mit einem Neutraldichtefilter gearbeitet, der mich auch am Tage zu Langzeitbelichtungen kommen ließ. Insgesamt habe ich mich zwei Monate in Mumbai aufgehalten und es ist nicht ein einziges Mal zu einem Zwischenfall gekommen, der mich in irgendeiner Weise bedroht hätte. Die einzige Schwierigkeit ist es oft, dass man gerade in den Slums oft von bis zu 30 Kindern umgeben ist, die sehr wild sind und am liebsten alle die Kamera betatschen und einmal durch den Sucher schauen möchten.

Hier hatte mir meine Dolmetscherin sehr geholfen und diese Kinder versucht zu bändigen. Oft konnte ich sie auch für meine Bilder einspannen, indem ich sie bei Langzeitbelichtungen von ca. 5 Sekunden vor meine Bilder laufen ließ und sie so zu bewegungsunscharfen Figuren wurden, eingebettet in die interessante und gestochen scharfe Architektur.

Wie aber gelangt man in die Slums? Der Verkehr in Mumbai ist häufig ein Dauerstau, daher ist es ratsam, wenn man weitere Entfernungen überbrücken möchte, den Vorortzug zu benutzen. Es ist ja gewiss bekannt, dass diese Vorortzüge mit offenen Türen durch die Stadt fahren, was täglich mehrere Verletzte und im Jahr zahlreiche Todesopfer fordert. Während in der Hauptstadt Delhi eine moderne U-Bahn gebaut wurde, bei der sich die Türen schließen und alles einigermaßen diszipliniert verläuft, ist das Geschehen rund um die S-Bahnen in Mumbai eine mittlere Katastrophe.

Nehmen wir die Station Dadar in der Hauptverkehrszeit. Hier strömen nicht nur Menschenscharen dichtgedrängt die Auf- und Abgänge zu den Bahnsteigen hinauf und hinunter, bei jedem einfahrenden Zug spielt sich in etwa die gleiche Szene ab.

Die Menschen quillen auch während der Fahrt aus den offenen Türen heraus und sobald der Zug in den Bahnsteig einfährt, beginnen selbst bei noch höherer Geschwindigkeit, die meist jungen Männer mit dem Abspringen. Kurz bevor der Zug hält, gibt es ein wildes Durcheinander, denn immer noch springen viele Menschen ab, während die ersten Menschen schon mit dem Aufspringen beginnen. Ein heilloses Durcheinander!

In den separaten Frauenwaggons geht es auch nicht gesitteter zu. Da die Züge hoffnungslos überfüllt sind, gelangen nicht alle Menschen hinein, die hineinwollen… und ehe der Prozeß abgeschlossen ist, fahren die Züge einfach wieder los, auch wenn zahlreiche Menschen noch versuchen aufzuspringen und irgendwo am Rand der offenen Tür ihre Füße auf den metallenen Zugboden zu setzen und Ihre Arme an irgendeinem Haltegriff zu verankern. Während andernorts in Mumbai schon die erste Magnetschwebebahn fährt und weiter daran gebaut wird, sind die Vorortzüge Teil eines unheilvollen Chaos. Aber für den in Colaba wohnenden Fotografen sieht die Sache schon etwas harmloser aus. Hier im Zentrum des alten Bombay beginnen nämlich an den zwei Sackbahnhöfen Churchgate und dem als Weltkulturerbe anerkanntem Victoria Station die Vorortzüge und sind so leer, dass man meist noch einen Sitzplatz bekommt. Ist man unsicher, kann man auch die erste Klasse wählen. Reist man nicht in der Hauptverkehrzeit, ist es sogar ein Vergnügen, an der offenen Tür zu stehen, den Fahrtwind der indischen Luft auf Gesicht und Körper zu spüren und die Stadt Mumbai unter dem regelmäßigen Rhythmus der noch nicht verschweißten Schienen aus der Bahnperspektive an sich vorbeiziehen zu lassen.

Möchte man ins größte Slum von Mumbai, nach Dharavi, so muss man die Zugstrecke nehmen, die am Sackbahnhof Churchgate beginnt und ein Ticket nach Mahim Junction lösen.

Dharavi, ist mit geschätzt einer Million Menschen auf nur ca 2 Quadratkilometern der größte Slum von Mumbai, eins von ca. 2000 weiteren Slums. Über 6 Millionen Menschen leben in den Slums von Mumbai. Wer hier aber Depression und Elend erwartet, hat sich geirrt. Dharavi ist geschäftig wie ein Bienenstock. Überall wird hier viel und hart gearbeitet. So produzieren in Dharavi etwa 10000 winzige Fabriken und Werkstätten, die teilweise sogar ins Ausland exportieren, die verschiedensten Güter. Am größten ist die Recycling Industrie. Hier wird ein Großteil der Mumbaier Plastik Abfälle zu winzigen Kügelchen, den sogenannten Pellets, recyclet. Daraus können Computerteile oder Handyhüllen hergestellt werden. Auch Autoteile werden in wiederverwendbare Einzelteile zerlegt. Insgesamt werden in Dharavi täglich ca. 10 Tonnen Plastikmüll recyclet.

Dharavi lag früher am nördlichen Rand von Mumbai und war ein kleines Dorf ohne Infrastruktur. Da die Stadt so unglaublich schnell Richtung Norden gewachsen ist, liegt Dharavi, aber auch das benachbarte Bhandra, mittlerweile in der Mitte der Metropole und bildet quasi das Herz von Mumbai, und dieses Herz pocht immer schneller. 700 Millionen Euro werden jährlich in Dharavi umgesetzt, auch das Luxusgewerbe der schillernden Metropole lässt in Dharavi produzieren: Luxushotels, Restaurants, Bekleidungsgeschäfte. Genäht wird nicht nur in Bangladesh, auch in Dharavi sieht man hinter den vielen Wellblechfassaden zahlreiche Menschen, die an Nähmaschinen sitzen. Das Töpferviertel ist malerisch und der Höhepunkt jeder geführten Slumtour. Finden die großen indischen Feste statt, steigt der Umsatz nochmal um 50%.

Die Menschen in den Slums sind mir meist freundlich entgegengekommen. Besonders nachdem ich ein zweites Mal wiederkam und Ihnen Prints mitbrachte, auf denen sie abgebildet waren, öffneten sie mir Türen zu Innenräumen, die mir sonst verschlossen geblieben wären. Auch wenn es außen noch so dreckig war, sobald sich die Tür zu einem Innenraum öffnete, war alles picobello, sauber, farbenfreudig gestrichen und das metallene Geschirr blitzblank. Im Durchschnitt wohnen in Dharavi 6,2 Menschen auf 12 Quadratmeter Fläche. Aber die meisten wollen nicht weg und empfinden Dharavi als ihre Heimat. Natürlich wäre Dharavi eine Goldquelle für Immobilienspekulanten, denn die Lage ist inzwischen im Herzen der Stadt, und so ist Dharavi immer wieder vom Abriss bedroht. Aber das wäre so, als würde man der Millionenmetropole sein Herz herausreißen und man kann nur hoffen, dass die Einwohner Dharavis genügend Widerstand leisten.

In Gesprächen beklagten sie vor allem immer wieder die herrschenden Ungerechtigkeiten. Der Glaube an die Politik hielt sich sehr in Grenzen. „Vor der Wahl versprechen sie das Blaue vom Himmel und nach der Wahl bleibt alles beim alten“. Als ich da war, herrschte gerade Wahlkampf für eine Regionalwahl. Immer wieder fuhren bunt bemalte Wagen verschiedener Parteien durch die Slums, die Lautsprecher übertönten noch den sowieso immens hohen Geräuschpegel der Stadt. Einmal dröhnten die dezibelgeschwängerten Töne des Immams einer Moschee mit den Lautsprechern aus einem Wahlkampfwagen um die Wette. Welch ein Geräuschbrei! Kehrt man aus Mumbai nach Europa zurück, so empfindet man selbst das Zentrum von Frankfurt am Main als einen Ort der Stille. Ich habe noch kein lauteres Land als Indien kennengelernt.

Doch die Menschen in den Slums von Mumbai sind bescheiden. Zu siebt leben sie teilweise in kleinsten Räumen, haben keine Toiletten im Haus, aber dennoch betrachten sie Dharavi, das größte Slum, als ihr Zuhause.

Ich traf mehrere gebildetere Slumjungen, die studierten und dennoch in Dharavi wohnen bleiben wollen. Ein Slumjunge sagte mir: „Ihr im Westen seid fast immer angespannt, Ihr werdet nur akzeptiert, wenn Ihr etwas leistet und steht immer unter dem Zwang etwas Besonderes darstellen zu müssen. Viele von Euch leiden unter Schlafstörungen. Wir dagegen sind immer entspannt, wir werden so akzeptiert wie wir sind und wir sorgen ein Leben lang für unsere Familien. Darin liegt unser Lebenssinn“. Hat er womöglich Recht? Er wollte gerne gutes Geld verdienen und dieses Geld dann zur Verbesserung seines Slums verwenden. Überhaupt habe ich so viele Menschen mit Idealismus gefunden. Ein anderer Slumjunge studierte Maschinenbau, auch er betrachtete Dharavi als sein Zuhause und wollte dort nicht weg. Viele junge Frauen wollten Sängerin, Tänzerin oder Ärztin werden. Ich habe gestaunt, wieviel Zuversicht trotz kritischer Weltsicht in den jungen Menschen der Slums schlummerte.

Obwohl viele die extreme Ungleichheit, die in Mumbai wirklich nicht zu übersehen ist, beklagten, herrschte nirgendwo eine Stimmung der Gewaltbereitschaft. Auch Moslems und Hindus leben in den Slums friedlich nebeneinander.

Das auf den ersten Blick so unglaublich Hässliche dieser Slums hat bei genauerem Hineinsehen also doch alles andere als ein hässliches Gesicht. Und deshalb habe ich meine Fotos auch in Farbe belassen und nicht in schwarzweiß umgewandelt, denn gerade die vielen leuchtenden und freundlichen Farben gehören zu Indien, lässt man sie bei der Schwarzweißumwandlung weg, verfälscht man auch die Wirklichkeit.

Mumbai, vielleicht die Stadt der extremsten Gegensätze der Welt, hat sich mir in den zwei Monaten, die ich dort verbracht habe, als eine ausgesprochen freundliche Stadt dargestellt. Ich gehörte immer schon zu denen, die Indien trotz seiner extremen Schattenseiten lieben und nicht hassen. Im Westen könnten wir viel von der indischen Mentalität und gerade von der Bescheidenheit der armen Menschen lernen!

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