„I’m known for taking pictures very close, and the older I get, the closer I get.“ Bruce Gilden

In letzter Zeit entstehen Unmengen ziemlich langweiliger ‚Streetfotos‘, die ich mir wie folgt erkläre: Ein gutsituierter Angestellter flaniert in seiner Freizeit durch die Straßen und versucht sich als HBC. Er entdeckt Laternen, die malerisch über einsamen Menschen schweben – KLICK; Straßen die einen schönen Bogen machen – KLICK; Menschen, die gar lustige Schatten werfen – KLICK; Jugendliche, die sich mit ihren Skateboards in der Luft drehen – im Gegenlicht natürlich – KLICK; Straßenschilder, die witzig Verwirrung stiften – KLICK; grüne Büsche vor roten Sportwagen – KLICK;  etc. etc.

Dem fleißigen und natürlich immer von seinen ‚Streetobjekten‘ distanzierten Fotografen wird alles zum Motiv, was sich in Black and White oder in Komplementärfarben gut als alternatives Dekoposter macht; dazu wird dann im Idealfall noch eine witzige Bildpointe eingestreut und fertig ist das ‚Streetphoto‘. Eine gewisse Wahllosigkeit der Motive greift um sich. Ist nicht alles komisch auf dieser Welt? Man muss nur warten, bis sich die dicke Oma an der halbierten Schaufensterpuppe vorbeischleppt und – KLICK: Schon ist der geniale Streetshot im Kasten.

Schaut man sich mehr von diesen Bildern an, dann fragt man sich am Ende: Und? Was soll es bedeuten? Wo führen uns diese Bilder hin? Sagen sie etwas mehr aus, als dass immer ‚was los ist‘ auf unseren Streets??

Ganz anders der Magnumfotograf Bruce Gilden (hier ein Video mit ihm) dessen Bilder nichts gemein haben mit den oben erwähnten KLICK-Bildern unserer Freizeit-Fotografen mit der Streetbrille. Bruce Gildens Fotos machen aus der toleranten New Yorker Bevölkerung eine Ansammlung von Wahnsinnigen, Senilen, Depressiven, Verfetteten und Entstellten, die über die Straße hetzen (gemeint ist seine Serie ‚A Beautiful Catastrophe‚).  Immerhin ein fotografischer Ansatz, der mir in unserer schönen neuen Welt schon plausibler zu sein scheint. Bruce Gilden geht NAH RAN – aber WIRKLICH NAH: das geht unter die Haut, wenn er den Blitz mit seiner uralten Leica hochreißt und dem hilflosen, völlig überraschten Gegenüber direkt ins Gesicht blitzt. Da kann man sich ein Schmunzeln nicht verkneifen und man denkt: ‚Genau so muss moderne Street Photography heute sein: DIREKT, BRUTAL und  OHNE UMSCHWEIFE‘. Kein Warten eines distanzierten Beobachters, bis mal wieder ein ‚Decisive Moment‘ sich ereignet, sondern der moderne Streetfotograf soll ein Getriebener mitten unter Getriebenen sein. Er soll sich nicht hübsch distanzieren und nach dem Street-Fotoshooting wieder in seinen gutbezahlten Job verkriechen: Ein guter Streetfotograf hat nur EIN Zuhause: die Straße.

Allerdings: Bruce Gilden in München? Wäre das denkbar? Nur für einen Tag, denn am nächsten würde er schon von der Münchner ‚Sicherheitswacht‘ aus der Stadt spediert. Ein deutscher Streetfotograf kann von der Toleranz der New Yorker Bevölkerung nur träumen…