Erinnerungen als Polizeireporter bei einer Berliner Boulevardzeitung

Zum Thema „Das Unvermögen von Katastrophenbildern“ ein persönlicher Erfahrungsbericht aus sechs Jahren freier Mitarbeit als Text- und Bildreporter für die Berliner Boulevardzeitung B.Z.. Ich war damals, 1992, nach dem aus Hamburg verordneten Tod der Frauenillustrierten Für Dich, bei der ich noch dreieinhalb produktive Jahre als Bildreporter erleben durfte, arbeitslos, suchte einen Job und fragte auch bei „Berlins größter Zeitung“ B.Z an. Die Lokalredaktion war interessiert an einem Reporter, der sich im Land Brandenburg auskannte. Eine Anfrage bei Bild war gescheitert, weil ich weder perfekt Russisch sprach noch einen Scanner besaß, mit dem Tag und Nacht der Polizeifunk nach schlagzeilenträchtigen Unfällen, Morden usw. abgehört werden konnte. Und doch ergaben sich in diesen sechs Jahren immer wieder persönliche Kontakte mit den Kollegen der Konkurrenz (einbezogen hier auch der Berliner Kurier als drittes Hauptstadt-Boulevardblatt) – beim Wettrennen zum Tat/Unglücksort. Wer zuerst dort ankam, hatte auch als erster die Chance, ein Foto des Opfers zu ergattern. Meist von Angehörigen, die oft noch unter Schock standen. War Bild schneller, gab es eine kleine Chance auf Milde – „Bild hinterlässt verbrannte Erde“, hieß es. Diese Reporter waren meist recht jung, kämpften auf dem Berliner Pressemarkt mit großem Ehrgeiz um einen Platz an der Krippe.

Ich erinnere mich an ein Wettrennen nach Gransee. Am Vorabend hatte ein betrunkener Autofahrer einen Jungen auf der Landstraße tödlich verletzt. Der Zehnjährige wollte seinen Opa, der mit dem Fahrrad zu Besuch gewesen war, die wenigen hundert Meter nach Hause begleiten. Ich erkundete die Adresse des Großvaters, redete kurz mit dem Verzweifelten, sprach ihm zum Abschied mein Beileid aus – und erlebte zwei Reporter von Bild, denen selbst diese kleine Geste zu viel war. Erzählte das auch noch in der Redaktion. „Prima“, erwiderte der Chef der Lokalredaktion, „wir haben die Ehre und die  das Foto…“

Beispiel zwei. Ein Junge war durch das Eis gebrochen und umgekommen. Ich stand vor dem Haus der Eltern, sah einen Reporter der Konkurrenz herauskommen. Ich rief in der Redaktion an, versuchte, mich rauszureden, Bild sei ja schon dagewesen. Die Antwort war ein Befehl: „Du gehst da jetzt rein!“ Ich ging, sprach mit dem Vater, die Mutter weinte im Hintergrund.

Beispiel drei. Senftenberg. Ein Ehepaar kommt nach Hause, der Mann öffnet die Post, liest das Schreiben eines Scheidungsanwalts und erschießt sich vor den Augen seiner Frau. „Tolle“ Geschichte. Berliner Kurier und B.Z zeitgleich vor dem Plattenbau, lauernd, dass die Ehefrau herauskommt. Dann kommt sie mit einer Freundin, sieht uns und ruft: „Da sind ja die Aasgeier“. Diese schlichte Wahrheit hatte mich betroffen gemacht. Aasgeier? Ja, genau, aus Toten Kapital saugen, Honorar für Nachrichten vom Elend anderer. Ich erzählte von meinem Erlebnis in der Redaktion, bat, wenn irgend möglich, in der Zukunft von solchen Aufträgen verschont zu werden. Diese Haltung hätte mich um ein Haar den Reporter-Job gekostet. „Das ist ein Drittel unserer Arbeit. Wenn du das nicht machen willst, kannst du hier nicht mehr arbeiten.“ So funktionierte das damals.

Die Leser der Boulevardzeitungen, aber nicht nur der Boulevardzeitungen allein, gieren, so scheint mir, vom Leiden anderer zu erfahren. Die gute Nachricht aus dem Alltag ist eher langweilig. Richtig, allein die Auflage zählt. Ein Produkt muss, will es auf dem Markt bestehen, verkauft werden, im Zeitungsmarkt nicht anders als etwa im Maschinenbau. Journalisten sterben in Kriegsgebieten, weil nur in Lebensgefahr die Filme, Texte, Fotos entstehen, die höchsten Medienerfolg und damit Gewinn versprechen.

Hier auf eine Wandlung zum Guten, zur Abkehr von Tod, Elend, Katastrophen, auf Abschalten, Nichtkaufen zu hoffen, halte ich für illusorisch. Dazu brauchte es massenhaft einen neuen Typus Mensch, frei von Gelüsten, bereitwillig das Elend der anderen zu konsumieren.

meinem [meinem]